Musik an der Förderschule - ein Auslaufmodell ?!

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Moderator: Dirk Bechtel

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myflow
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Musik an der Förderschule - ein Auslaufmodell ?!

Beitrag von myflow »

Als Sohn eines blinden Musikers und Klavierlehrers keimte während meiner Zivildienstzeit in einem Blindenheim bereits in 70er Jahren die starke Motivation, benachteiligten jungen Menschen mit Hilfe der Musik etwas mitzugeben, sie stark zu machen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Und so wurde ich selbst Musiker und studierte Musik in der Sonderpädagogik in Dortmund bei Prof. Probst, Dr. Kemmelmeier und Dr. Irmgard Merkt. Ich gehörte mehrere Jahre lang zum Gründungsteam des Modellversuchs "Instrumentalspiel mit Behinderten" in Bochum und entwickelte eine Klavierschule für geistig Behinderte. Später entschied ich dann, mein Engagement den sog. Lernbehinderten und Menschen mit geistiger Behinderung zu widmen, machte meine beiden Staatsexamen und arbeite nun seit 1983 ununterbrochen an der Strakerjahn-Schule in Lübeck, einem Förderzentrum ("Lernen"). http://www.strakerjahnschule.de

In den letzen 25 Jahren habe ich dort dafür gesorgt, dass die fachliche Ausstattung von anfänglich einigen Rasseln und defekten Glockenspielen so weit erweitert und verbessert wurde, dass wir heute ein komplettes Band-Instrumentarium haben, ältere Instrumente an Schüler ausleihen können, ein kleines Audio-Video-Studio aufbauen, Auftritte und Discos beschallen können usw. So entstand bereits 1987 die Idee einer eigenen Schulband, und letztlich gibt es seitdem die STRAKI-KIDS (http://www.straki-kids.de )

Es gab jede Menge Auftritte, man nahm an Landes - und Bundesfestivals teil, machte mehrere Tournéen und trat u.A. im Europark Rust auf. Wir produzierten erst Kassetten, dann CDs, jetzt Video-DVDs. Solche Erlebnisse wie der Auftritt in der Stadthalle von Ingolstadt wird allen Beteiligten mit Sicherheit für ihr ganzes Leben unvergesslich bleiben. 11 "Lernbehinderte" bringen 1500 Zuschauer dazu, ihr Lied alleine weiterzusingen. Hier kann man sich das anschauen:
http://video.google.com/videoplay?docid ... 7904549165

Das voraussichtlich letzte große Projekt war die Produktion von 19 Videoclips und die Verleihung des "Lübecker Video-Victors" mit der großen Gala im Mai 2008.
http://www.video-victor.de

Ich werde mich damit abfinden müssen, dass die Schulpolitik (und auch die Sonderpädagogik?) diese Art von Arbeit zukünftig immer weniger benötigt. Ich bin sehr nachdenklich geworden und habe einfach das Gefühl, dass meine Art der Arbeit demnächst nicht mehr gefragt ist. Unsere Schülerzahlen sinken jetzt rapide. Dieser Trend nicht mehr aufzuhalten, er ist politisch gewollt, und dies ist nicht nur in Schleswig-Holstein so.


Es gibt ja bereits komplett schülerlose Förderzentren (die Bezeichnung FörderSCHULE gehört ja konsequenterweise bereits der Vergangenheit an), die nur noch aus Aktenordnern und Anrufbeantwortern bestehen. Im kommenden Schuljahr werde ich - wie immer mehr meiner Kollegen - in einer Grund- und Hauptschule integrativ bzw, präventiv arbeiten. Auf Dauer werden Projekte wie die Schulband „STRAKI-KIDS“ oder der „Videoclip-Victor“ wohl nicht mehr existieren.

Natürlich sind Mathe-Förderstunden und Lese-Intensiv-Kurse für schwache Grundschüler eine wichtige Sache - wer würde das bestreiten? Ich bezweifle aber, dass es richtig ist, Sonderpädagogik auf die Förderung von Defiziten zu reduzieren, um auf diese Weise Kindern zu helfen, die ihre Schwächen in diesen Bereichen deutlich spüren und in vielen Fällen überhaupt keine große Lust haben, sich fördern zu lassen, in dem sie sich schwerpunktmäßig nur mit ihren Schwächen befassen müssen.

Meine Auffassung von Sonderpädagogik war bis jetzt immer, nicht nur die DEFIZITE eines Menschen in den Mittelpunkt zu rücken und daran - mehr oder weniger erfolgreich - zu arbeiten - sondern vielmehr auch seine STÄRKEN heraus zu finden und sie auszubauen - also quasi ein kompensatorischer bzw. therapeutischer Ansatz. Letztlich gehen intellektuell besser ausgestattete Menschen in ihren Lern- und Bildungsstrategien auch nicht anders vor: Jeder Gymnasiast wählt selbstverständlich seinen Leistungskurs - orientiert an seinen persönlichen Neigungen und Stärken.

Björn Tischler (Sonderschullehrer, Studienleiter für Musik in der Sonderpädagogik, Autor, Referent und Mitglied im Bundesvorstand des vds - Verband Deutscher Schulmusiker) aus Kiel hat mich in dieser Auffassung bestätigt: „Die Situation der Musik in der Sonderpädagogik ist miserabel. Dabei gibt es unzählige wissenschaftliche Studien, die belegen, dass Musik als Baustein der Förderung einen hohen und unverzichtbaren Stellenwert hat.“

Ich selbst bin dabei, mich mit der veränderten Schulsituation in Schleswig-Holstein zu beschäftigen und werde nicht darum herum kommen, mich völlig neu zu orientieren. Im Grunde gibt es da Parallelen zu der Situation meines Vaters vor ziemlich genau 80 Jahren: 1929 setzte sich weltweit die Erfindung des Tonfilms durch, so dass er als blinder (!) Leiter einer Stummfilm-Kapelle wie zehntausende Anderer plötzlich arbeitslos waren - und das parallel zur durch den „schwarzen Freitag“ ausgelösten Weltwirtschaftskrise ... Und so wie er damals seinen Weg fand durch die Aufnahme eines Musikstudiums, werde auch ich hoffentlich ein neues berufliches Aufgabenfeld finden...

Bin gespannt auf die Diskussion ...

Reinhard Kossak, im Februar 2009
myflow
Beiträge: 16
Registriert: 8. Mai 2004 09:22

Re: Musik an der Förderschule - ein Auslaufmodell ?!

Beitrag von myflow »

Ist das bei Euch anders?
Kann man jungen Leuten heute noch empfehlen, Musik in der Sonderpädagogik zu studieren?
Gibt es in einer sich verändernden Schullandschaft auf Dauer eine Zukunft für Musik in der Förderschule?
Gibt es Konzepte für Musikunterricht und Musiktherapie mit "integrierten" SchülerInnen?
Interessiert sich überhaupt jemand für diese Fragen?
???

Reinhard Kossak
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